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Die ersten Wochen

Von Tim zu Luchito

  „Tink! Tink!“ höre ich Emilia mich zum Abendessen rufen. Sie ist erst 4 Jahre alt, redet aber schon wie ein Wasserfall. Einen Lautstärkeregler habe ich bei ihr noch nicht gefunden. Im Spanisch enden Worte nie auf M, weshalb es für sie eine Umstellung ist, meinen vermeintlich einfachen Namen auszusprechen. Da ich aber auch sonst keinen gefunden habe, der es vermag über die „Ting“-Grenze zu treten, ohne dass es im „Timmmmm“ endet, habe ich es mit meinem Zweitnamen Lewis versucht. Da sind alle immer erleichtert, Luís kann ja wohl jeder aussprechen. Um dem ganzen einen Hauch Authentizität zu verleihen, kam noch die hier omnipräsente Diminutivform hinzu. Luchito also.

 

  Wohlwollend nennt mich meine Gastfamilie aber immer Ting (oder eben auch Tink) … Familie Pardo wohnt in einer Urbanisacion[1] im Norden von Guayaquil. Erika, meine Gastmama arbeitet bei HDC (Hogar de Cristo[2]) im sozialen Bereich und ist nebenher tüchtige Mutter. Nach der Arbeit geht sie sofort in die Küche und nach dem Abendessen gehts meistens noch in die Abend-Uni. Am Wochenende genauso. Ihr Mann Marcos hat ein riesiges Herz. Seitdem er sein Leben Jesus gegeben hat, ist er stehts bemüht, anderen zu dienen, und sei es, die gesamte Fußballmannschaft seines Sohns Sebastian nach einem Spiel hinten auf der Ablage seines Firmen-Pickups nachhause zu fahren.Zu jedem seiner Spiele kommen Sebastians Eltern nämlich. Kein Wunder, dass der 16-Jährige Fußball lebt und atmet. Renata ist 17 und hat den großen Traum Tierärztin zu werden. Sie liebt Tiere über alles, ob sie bellend wild herumspringen oder gegrillt auf ihrem (oder auch meinem) Teller liegen. 

 

[1] „Urbanisation“ = geschlossene und von Security überwachte Siedlung

[2] Hogar de Cristo = meine Empfängerorganisation.

Anreise und Hogar de Cristo

Eines Tages werde ich meinen Enkeln erzählen, ich bin mal um 15:20 losgeflogen und um 18:20 gelandet, war aber elf Stunden in der Luft! Genau das trifft auf meinen Flug von Frankfurt nach Bogota am 26.07.2022 zu. In den Airbus 340 – 300 lässt man mich nur auf Umwegen (der Flug war überbucht) und auch in Kolumbien muss ich eine gewisse „Einwandsbehandlung“[1] durchführen um an Board der Maschine gen Guayaquil zu gelangen, wo mich überraschenderweise nicht meine Gastfamilie, sondern Cristian abholt. Er ist Zuständig für alle Freiwilligen der Organisation. Die ersten Tage werde ich mit ihm in der KiTa seiner Freundin hausieren. Nach insgesamt ziemlich genau 24h von Haustür zu Haustür davon 2 Stunden Schlaf (auf dem ersten Flug) möchte ich aber nur noch eins: ein Bett! Einmal ausschlafen soll ich jedoch nicht. Cristian kündigt an, dass es für uns um 7:00 losgehe. Erstaunlicherweise fühle ich mich nach 3 Stunden frisch und arbeitsreif.

Von der „Ciudadela“[2] in der Cristian wohnt bis zum Gelände von HDC dauert es mit dem Auto ca. 30 Min, mit dem Bus ca. 40, wobei es eher auf den Stau und den Fahrer als auf die Distanz ankommt. Da man hier nicht in Spuren, sondern in einem Rennbahn-System denkt, sind jegliche unangekündigten Lenkbewegungen legitim, auch wenn sie gerne behupt werden. Allgemein habe ich festgestellt, dass man hier aktiv gegen die anderen Verkehrsteilnehmer „spielt“. Ziemlich cool, wenn man es kann. Führerschein und Nummernschild sind weitgehend optional.

HDC liegt mitten in Monte Sinai, einem Stadtviertel mit ca. 150000 Einwohnern, in dem es Turbulent zugeht. Hunger, Brände und Kleinkriminalität sind hier nicht ungewöhnlich. Es hat nur jeder 10. Ein festes Einkommen laut einer Statistik von HDC. Nicht umsonst hat die Organisation das Motto „amar y servir“ (lieben und dienen), welches sich nicht nur in den verschiedenen Bereichen der Organisation verdeutlich, sondern auch in der Einstellung der Mitarbeiter. Viele haben sich bewusst dazu entschlossen der Gemeinde in Monte Sinai durch ihre Arbeit zu helfen, auch wenn das bedeutet, dass sie neben den 42 Stunden bei der Orga einem zweiten Job nachgehen müssen. Auf dem Gelände herrscht zudem eine sehr hohe Arbeitsmoral. Das Klischee, dass hier immer Salsa läuft und alle ein Hakuna Matata- Lifestyle haben, muss ich leider entkräften.

 

[1] „Einwandsbehandlung“ = In der Werbebranche verwendeter Terminus für Überredekunst.

[2] „Ciudadela“ = Früher war hiermit eine befestigte Einheit als Zufluchtsort vor einer Belagerung gemeint. Heute bedeutet der Begriff eine Urbanisacion mit Schulen, Läden, Pools usw.  innerhalb einer Stadt.

Meine Tätigkeiten bei HDC

Die ersten 2 Wochen hatten für mich einen starken Praktikumsflair, da ich hier und da mal reinschnuppern durfte, aber nichts so richtig gemacht habe. Ein Projekt in das ich mehr Einblick gewinnen durfte nennt sich „Talleres de los Ninos“ (Kinderworkshops) Das Ziel ist, Kindern im Grundschul- und Mittelstufenalter etwas zu tun zu geben, damit sie nicht zuhause vorm Fernseher[1] oder auf der Straße sind. Auch im „Viviendas“ (Hausbau)-Projekt durfte ich mithelfen. Neben Programmplanung, Hausmeister spielen und jede Menge herumgurken konnte ich aber jederzeit in die „Banco de Materiales“. Dort werden gespendete Materialen und alte Möbel restauriert oder auch komplett neue Dinge hergestellt. Nach meinem 4. Tag bei HDC hatte ich schon ein Bett gebaut :).

Die allgemeine Planlosigkeit hat mein noch sehr deutsches Denken aber stark belastet, sodass ich es dem Cristian eisern eingehämmert habe, dass ich jeden Tag selber wissen muss was ich mache. Das Resultat: Ich arbeite jetzt 3 Tage die Woche in der Werkstatt, wo ich vormittags schreinre und nachmittags schweiße/ Metallarbeit mache, und 2 Tage in der Flüchtlingsunterkunft am anderen Ende der Stadt. Das Projekt nennt sich „Un Techo para el Camino“ (=ein Dach für unterwegs) und dient als temporäre Flüchtlingsherberge. Die Arbeit dort bewegt mich zwar am allermeisten, aber bislang war ich dort ziemlich nutzlos …

 

[1] Ein Fernseher gilt als Grundausstattung eines jeden Haushalts, manchmal sogar wichtiger als eine Tür!

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Mein erstes Bett

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Luchito, Baby Iguana, Don Payo (Mein Meister)

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Goldminen

Durch einige anfängliche Komplikationen kommt es, dass ich erst noch zwei Wochen im Hause der Familie Renjel Zolano (die Eltern der Freundin vom Cristian) wohne, bevor ich zu meiner endgültigen Familie ziehe. Die Villa am Fluss neben dem Yachtclub ist ein ruhiger Ort, an dem ich gerne nach der Arbeit ankomme. Wer würde nicht gerne nach einem Tag in der heißen Werkstatt erstmal eine Runde in den Pool? Der Familienvater ist Unternehmer in der Goldminenindustrie und hat Minen in Ecuador, Kolumbien, Bolivien und Peru.

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An einem Wochenende fahren wir an einer seiner Minen in der Nähe von Cuenca mitten im Nebelwald. Mit dem Chef an einen solchen Ort zu gehen kann ich nur empfehlen: mit ehrfürchtigem Blick macht der schwerbewaffnete Security-Typ uns die Tür auf. Dank ihm bekommen wir eine komplette Tour der Werke und der Mine. Dafür fahren wir mit dem Geländewagen über abenteuerliche Wege und an atemberaubender Natur vorbei. Hier stehlen sich Bromelien, Monsteras und Bananenstauden mit astronomischen Größen gegenseitig die Show. Mit jedem Höhenmeter verdichtet sich der Nebel und die Geräuschkulisse wird üppiger. Man kann nicht anders, als sich wie ein Naturforscher fühlen. Auf der Höhe der Mine ist der Nebel so dicht, dass die Sonne nie durchdringt. Wir bekommen einen Specialzugang für das Loch im Berg, das man nur mit Helm, Stiefeln und Gasmaske betreten darf. Wie in Filmen fahren wir mit einem Minenwägelchen 1,8km in die Mine herein. Es ist ein richtiges Labyrinth. Zwar finden wir keine Nuggets, aber ich nehme als Souvenir ein Paar Steine mit, in denen …. und auch Gold enthalten ist

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Bei Pardos wohne ich seit dem 14.08. Für mich ist das die ultimative Umstellung. Viele Konzepte wie Privatsphäre, Ruhe, und Familie, die ich aus Deutschland kenne und schätze, werden in meiner jetzigen Wohnsituation auf den Kopf gestellt. Ich frage mich: was macht ein Zuhause aus?

Nach 5 intensiven Wochen des Hierseins kann ich auf jeden Fall sagen, dass ich mich langsam einlebe. Mit der schwülen Hitze des hiesigen Winters komme ich immer besser zurecht und die Sprachbarriere zwischen meinem Schulspanisch und dem hier gesprochenem Guayaquileno lüftet sich. Ich kenne mittlerweile Buslinien für viele Bereiche der Stadt und meine Begeisterung steigt nicht mehr durch die Decke, wenn ich auf Spuckentfernung an einem 1 ½ Meter großen Iguana vorbeispaziere.

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Trip nach Cuenca mit Elias (meinem Vorgänger) und den spanischen Studentinnen Sofia und Maria

Ich denke, ich werde den Blog zunächst weiterführen Es gibt einfach so viel mehr über das ich berichten möchte. Aus eigener Erfahrung kann ich aber sagen, dass es oft mühsam sein kann, eines anderen Blog zu lesen. Bitte fühlt euch deshalb nicht verpflichtet weitere Einträge zu lesen. Ich habe gemerkt, dass ich gerne schreibe. Zum einen, um meine Erfahrungen und Eindrücke euch zuteilwerden lassen, zum anderen, weil es meiner Gedankensortierung hilft. Falls euch aber noch irgendwas brennend interessiert, schreibt mir doch gerne, und ich versuche es in den nächsten Eintrag einzubauen :)

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